Volker Demuth

FLEISCH. Warum wir ihm anhängen und weshalb wir von ihm abfallen

Auszug aus: SWR2 Essay, Sendung am 24. Juni 2013, 22:03 Uhr

„Menschen sind gierig nach Fleisch. Sie wollen es verschlucken und sich einverleiben, möchten es mit dem eigenen Fleisch umfangen oder in es eindringen. Sie wollen es sehen, in Körperwelten, Kriegen und Splattermovies. Ob Oliver Stones Platoon, Mel Gibsons Die Passion Christi oder die Bildpolitik des Terrorismus, welche die Nachrichtensendungen mit Blutlachen und Körperresten füllt, überall klafft Fleisch. Einmal als schmerzerfüllte Wunde und aufgerissener Leib. Ein anderes Mal als Körperöffnung voller Lust und Ekstase. Menschen drängen danach, es zu jagen. Die Vorstellung von Fleisch erhitzt ihre Phantasien und versorgt ihre Alpträume mit bizarren Ereignissen. Die sogenannte Nutzung von Pornographie erreicht allein im Internet, glaubt man den Netzbetreibern, satte dreißig Prozent unter privaten Usern. Blutnasses, lustfeuchtes, glänzendes Fleisch, zurückgeführt auf seine Materialität. Fleisch ist ein ganz besonderer Stoff. Abgesehen davon, dass es aufgrund seiner komplexen zellbiologischen Struktur und Funktion als Muskelgewebe Grundlage unserer Körperkraft und Bewegungsfähigkeit ist, dient es uns als externer Energieträger.”1

„Was ist der Bodybuilder anderes als ein Mensch, der seinen Körper nicht als himmlisches Readymade begreift, sondern als irdisches Ich-Kunstwerk, als Work in Progress, an dem er beständig arbeitet?”2

„Wir sind aus der mittelalterlichen Welt des Holzes herausgetreten, haben die industrielle Epoche des Eisens hinter uns gelassen, um jetzt das Fleischzeitalter anzutreten. Fleisch ist jener ganz besondere Stoff, der medizinisch, medial, religiös, künstlerisch, pornografisch oder militärisch bewirtschaftet wird. Es bildet die Schnittstelle nahezu aller Bereiche der Gesellschaft. Fleisch, dieses kriegstaugliche Material, ist stets erstes Ziel von Kriegen.”3

„Die Energie der alten, im Fleisch wie ein Stachel steckenden Differenz ist versiegt. Das lebendige wie das leblose Fleisch weiß sich vollkommen selbstidentisch. Von hergebrachter Symbolik entblößt, bietet es sich den Formen seiner Vermarktung und Verwertung rückhaltlos an. Das Geheimnis, welches es durch die Jahrhunderte umgab wie ein Schutzmantel, hat sich aufgelöst. Über seine profane Bewirtschaftung hinaus kann Fleisch sich in keiner erhabenen Dimension, in keiner endlosen Zukunft niederlassen. Sein Auferstehungstermin ist abgesagt. Es sei denn, die Erlösung vom Verfall findet in der elektronisch-neuronalen Dimension statt, als Implantat unserer Bewußt-seine in intelligente Computersysteme. Die technoiden Fiktionen haben den religiösen in aller Deutlichkeit den Rang abgelaufen.”4

[1] Volker Demuth: FLEISCH. Warum wir ihm anhängen und weshalb wir von ihm abfallen, in: SWR2 Essay, Sendung am 24. Juni 2013, 22:03 Uhr (online: https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/essay/swr2-essay-fleisch/-/id=659852/did=11451782nid=659852/kmwja4/index.html), 2.
[2] Ebd., 15f.
[3] Ebd.
[4] Ebd., 23.