Das Zukunftstheater

von Ben J. Riepe

Gekürzte Version in: tanz. Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance, Jahrbuch 2017, hg. von Der Theaterverlag, Berlin 2017, S. 98-103.

Das Theater braucht eine Struktur. Leider ist das so. Denn noch ist es in der Darstellenden Kunst so, dass man entweder in der freien Szene arbeitet und sich von Projekt zu Projekt, von Antrag zu Antrag, von Residenz zu Residenz, von Gastspiel zu Gastspiel hangelt, immer unsicher, immer unterbezahlt, immer sich anpassend, aber frei. Oder man fügt sich in das System eines Stadttheaters. Auch dort gibt es viele Freiheiten, viele Möglichkeiten, viele Ressourcen, viele (potenzielle) Zuschauer, aber eben auch den Auftrag der Stadt, der Region, die Zuschauerzahlen, Abos, und extrem lange Vorläufe und das Unflexible eben eines Betriebs.

Manchmal habe ich mich in die bildende Kunst gewünscht, dass ich keine Struktur brauche, sondern einfach nur mein Ding mache, damit am Ende ein Kunstwerk für sich steht, welches ich nicht jedes Mal wieder „beleben“ muss, damit es seine Wirkung entfaltet. Aber alleine arbeiten möchte ich nicht wirklich. Und gerade der Akt des „Belebens“, des live – und als Material das direkt Lebende, den Körper zu haben, ist mein Motor. Klar scheint es verlockend, einfach sein Werk zu verkaufen und zu überlegen was ich als nächstes mache. Aber diese Überlegung folgt brutal dem Markt und Kunst treibt zum Markt, zum Kapital, zum Besitz der Reichen, als Objekt der Eitelkeit und des Prestige.

Tanz bedeutet für mich Freiheit in der Kunst. Choreographie ist Strukturierung von Raum und Zeit. Im Zentrum steht der Mensch und sein Körper – als Thema, Inhalt, Medium, Austragungsort, Zeuge, Erzeuger. Welcher Raum (Bühne, Museum, nicht künstlerisch usw.), welche Dauer (1 Stunde bis 3 Monate) bestimmt die Arbeit – im Idealfall finde ich das erst im Prozess raus.

In der darstellenden Kunst geht es um Entwicklung, um „innovatives Arbeiten“, „spartenübergreifendes“ Entwickeln. Und wo ist der Ort? Welcher Ort ermöglicht, was ich beschrieben habe. Es ist ein Ort, in dem es um etwas Altmodisches geht. In erster Linie ist es VERTRAUEN. Vertrauen in meine Arbeit, in mich, in meine Ideen. Ohne mich ständig beweisen, verteidigen, rechtfertigen oder begründen zu müssen. Um tiefer zu gehen und meine Ideen wirklich deutlich zu erklären, will ich hier eine schnelle Analyse des Ist-Zustandes verfertigen.

In der freien Szene schreibt man pausenlos Anträge. Ich verbalisiere und entwickle ständig neue Projekte, die lediglich in meinem Kopf bzw. auf dem Papier bestehen und vielleicht auch niemals, oder jedenfalls nie in dieser Form realisiert werden. Ich bin so unendlich müde von diesem Antrag Schreiben. Ich merke, wie das Antragschreiben meine Arbeit beeinflusst. Sogar korrumpiert. Und ich merke, dass dieses Anträgeschreiben auch die Arbeit von vielen anderen korrumpiert. Von anderen Künstlern, von Kuratoren von Intendanten – ja, von der ganzen Szene. Wir müssen etwas verbalisieren, was nicht verbal ist und niemals verbal werden wird. Tanz ist wie die meisten Künste, auch die Musik, die bildende Kunst, abstrakt – also non-verbal. Klar: Dieser Prozess der Verbalisierung und Verschriftlichung hilft auch, hat mir auch geholfen, um über die eigene Arbeit zu sprechen, um diese Diskurshöhe zu erreichen, die wir in der freien Szene haben. Aber warum spielt sie am Stadttheater, besonders im Tanz und der Oper, fast keine Rolle?

Ich merke, wie meine Arbeiten sich immer mehr dem annähern, was ich mir beim Antragsschreiben ausgedacht habe, mit all diesen Trilogien, Überthemen, Weiterentwicklungen der Entwicklung. Mein Geschriebenes ist ein so extremer Kosmos geworden, dass ich ihm selber nicht mehr entkommen kann. Im Netz, auf der Homepage, in Interviews und auf Panels verstärke ich den Kosmos noch, weil ich gebetsmühlenartig immer wieder alles wiederhole, variiere und weiterentwickle. Ich habe gelernt mich zu artikulieren und das ist auch gut. Aber es gibt auch eine Seite, die vollkommen falsch ist, denn der eigentliche Prozess der Kreation findet nicht mehr im Proberaum statt – aus dem Moment, in der Suche, der Auseinandersetzung durch den Zufall, das Missverständnis, aus dem Problem, aus allen Mitwirkenden – kurz – dem Prozess, sondern theoretisch und am Laptop.

Wir brauchen das Wuppertaler Schauspielhaus, oder auch jede andere vergleichbare Möglichkeit, um Kunst nicht länger nach Antrag zu schaffen. Der Antrag folgt oft einem Thema. Also wird auch nach Themen kuratiert – und das ist wieder die gleiche Logik: es ist nicht genug Geld da, um das ganze Programm auf einem internationalem Standart zu erstellen. Also müssen auch hier Anträge gestellt werden. Der Antrag verlangt irgendeine Verschriftlichung – irgendein Thema, irgendeinen Bezug. Und das verstehe ich natürlich auch, denn nach irgendeinem Kriterium muss eine Jury oder ein Gremium ja auch entscheiden.

Es gibt inzwischen einfach so unfassbar viele Künstler, Festivals, Orte, Zusammenhänge – das es irgendeiner Entscheidungsgrundlage bedarf. Es entsteht ja auch ständig was neues – da kann man nicht mehr einfach sagen, die machen immer eine gute Arbeit, denen geben wir wieder Geld. (Wie es sicher viel in der Vergangenheit war, und zu viel Vetternwirtschaft geführt hat). Daher entsteht das Gieskannenprinzip – alle kriegen irgendwann was und bleiben irgendwie am leben. Dann geht es ihnen aber so schlecht und der Druck wächst so auf Politik und Lobby, dass eine neue Förderung mit neuen Kriterien geschaffen wird. Irgendwo entsteht dadurch auch ein neuer Studiengang, der wieder tausend Künstler, Kuratoren und Lobbyisten ausspuckt, die noch artikulierter nach mehr Förderung rufen, und noch mehr Förderstrukturen entstehen, die aber alle nicht aufeinander abgestimmt sind, sodass die Konstrukte und was man noch alles dafür tut immer irrsinniger werden. Doch wo soll das hin?

Das freie Haus oder das Festival erhält also die Förderung für die Reihe, die nun mit Arbeiten und Künstlern gefüllt werden will. Es gibt aber nicht unbedingt so viele Künstler oder Arbeiten, die sich gerade genau mit diesem Thema beschäftigen. Und wenn ja, sind es nun die interessanteste Arbeit? Und dann wird es schwierig….

Aber was macht eine Arbeit interessant? Das ist natürlich sehr schwer zu beantworten und lässt sich niemals pauschalisieren, aber vor allem ist ein Arbeit nicht interessant, wenn man sie versteht und einsortieren kann.

Arbeiten müssen heute eine gesellschaftliche Relevanz haben.

Ich denke, das ist zum einen, das der Dialog mit der Politik immer intensiver wird, da immer mehr Förderungen bzw. höhere Fördersummen geschaffen werden. Politikern aber mit „Non-verbal“ oder „drauf einlassen“ kommen? Deshalb muss auch hier ständig verbalisiert werden, und im drüber sprechen ist ein Vokabular entstanden, welches die ganz Kunst korrumpiert.

Zum anderen haben wir in der Nische der Nische des zeitgenössischen Tanzes ein Zuschauerproblem. Es interessiert einfach nicht viele Menschen. Die erste Nische vergebe ich an den Tanz ganz im Allgemeinen – wir alle wissen, dass der Tanz bzw. das Ballet im Stadttheatersystem immer das 3. Rad am Wagen ist und immer als erstes beschnitten wird. Musik und Oper ist edel. Schauspiel unterhaltsam oder bildend oder schockierend oder wachrüttelnd oder mahnend. Tanz? Vielleicht schön? Tolle Leistung? Letztendlich nicht ganz ernst zu nehmen. Die Zweite Nische vergebe ich an den zeitgenössischen Tanz: Den verstehen noch viel weniger Menschen. Die tanzen ja nicht mal mehr! Und man weiß wirklich nie was man kriegt. Alles experimentell und dann änderst sich das Programm in den freien Häusern auch noch ständig und man kann nichts und niemand verfolgen. Im Stadttheater kann man wenigsten das Ensemble bzw. seine Lieblinge in den unterschiedlichsten Arbeiten verfolgen.

Und hat man mal einen Choreografen, eine Choreografin gefunden, den/die man ganz toll findet, möchte man unbedingt mehr sehen. Aber die nächste Arbeit kommt erst in einem Jahr raus (das ist der durchschnittliche Antragszyklus), an einem Wochenende, nur zwei, drei Mal gespielt. Ausgerechnet an dem Wochenende, wo man ins verlängerte Wochenende fährt. Und schon ist die zarte Verbindung gekappt.

Es ist die Verbindung zur unfassbaren Innovation. Die Verbindung zum freien Tanz, der nicht von Hilfsmedium, wie Staffelei, Kamera, Partitur oder Text abhängig ist, sie aber vollkommen frei nutzen kann. Er schöpft direkt aus dem Menschen und seinem Körper. Er ist DIE Freiheit in der Kunst und vor allem non-verbal, abstrakt und ephemer. Das ist kein Nachteil, das ist seine Kraft, in die wir wieder ein Vertrauen gewinnen müssen. Wir meinen uns verteidigen zu müssen und haben dafür das falsche Vokabular entwickelt:

Künstler müssen sich legitimieren durch ein Vokabular der vermeintlichen Intellektualität. Das hat den Tanz zur Unfreiheit getrieben. Wir haben auf das falsche Pferd gesetzt, auf das der Erkenntnis, nicht des Erlebens.

Unsere schulische Ausbildung ist schon rein kognitiv. Da muss doch nicht die Kunst – und gerade die non-verbale Kunst – versuchen zu übersetzten und sich recht zu fertigen. Im Gegenteil – es ist fast schon sowas wie ein Bildungsauftrag: Es geht im Theater um das Einlassen: Auf etwas, was ich vielleicht nicht sofort verstehen kann, sondern – wenn ich mich einzulassen – etwas mit mir macht. Und zwar grundlegend. Was wir also brauchen ist eine Schule des Einlassens. Eine Schule des Erlebens. Sinne-öffnend.

Hinzu kommt: Das Wuppertaler Schauspielhaus ist ein lokales Haus. Aber das Lokale hat einen schlechten Klang. Das Lokale widerspricht der inzwischen weltweit vernetzten Szene. Sowohl Künstler als auch Kuratoren sind ständig in der Welt unterwegs und arbeiten in unterschiedlichsten Kulturen und Kontexten. Das „Globale“ ist im zeitgenössischem Tanz längst und im höchsten Maße Realität geworden. Tänzer und Choreografen zeigen weltweit ihre Arbeiten, geben Workshops, nehmen an Prozessen, Labs, oder Diskussionen teil. Kuratoren und künstlerische Leiter wollen genau das in ihren „freien“ Häusern abbilden, extrem international, extrem vielfältig und extrem schnell sein. Wie ein ewiges Festival. Das Theater soll also extrem aufregend sein. In dieser Maschine, dem Erhitzer von Diskurshöhe, Innovation, Internationalität und Flexibilität der freien Szene gibt es nur eins nicht mehr: das`“Lokale“.

Lokal ist „nur noch“ das Publikum. In Düsseldorf bin ich ein lokaler Künstler. In Seoul, Salvador de Bahia und San Francisco bin ich ein internationaler Künstler.

Als lokaler Künstler klopfe ich zu Hause an, und bin nun kein internationaler Künstler: einfach nicht so aufregend, nicht so groß. Und da bin ich nicht alleine. Ich kenne tausende hochkarätige Künstler, die nicht in ihrer Stadt spielen können. Dabei sind lokale Künstler wahnsinnig wichtig, denn mit lokalen Künstlern kann ein Publikum sich so einfach verbinden wie im Stadttheater, das Werk oder eine Entwicklung tatsächlich verfolgen. Warum also haben lokale Künstler schlechtere Bedingungen als ihre „internationalen“ Kollegen, die wir selber auch sind.

Das Stadttheater ist lokal. Es gibt den Auftrag, Arbeiten FÜR die Stadt zu entwickeln. Dafür existieren hohe Budgets, eigene Werkstätten, feste Ensembles, Proberäume. Das Ergebnis ist meist auch nur lokal zu sehen. Deutschland ist angesichts der Vielzahl riesiger Lokal-Apparate ein reines Lokaltheaterland, das auch nicht immer wahnsinnig innovatives Theater für viele Millionen produziert, während die internationalen Theater – extrem flexibel, innovativ, diskursiv, extrem prekär – die ganz große Kunst vorbringen. Hier stimmt etwas nicht. Wir brauchen ein lokales Internationaltheater ohne Anträge und Diskurshöhenrausch. Wuppertal hat also eine echte Chance, in seinem Schauspielhaus ein Theater zu erfinden, das Schluss macht mit den Antagonisten von einst: von lokal oder international, frei oder fest, arm oder reich.

Wie sieht er also aus, dieser Ort, dieses utopische Theater? Wie stelle ich mir das vor? Räumlich ist es ein Stadttheater, strukturell auch ausgestattet mit diesem Budget, Organisation und Werkstätten. In diesem Denkspiel ja das Wuppertaler Schauspielhaus.

Die große Bühne wäre zu sanieren und auf den neuesten technischen Stand zu bringen. Die Bar ist toll. Der Garten vorne mit seinen Glasquadern ist auch super: für Partys, Performances und zum verweilen: hier kann echte Gastgeberschaft erprobt werden – der Pulsschlag jeden Theaters.

Im hinteren Foyer, wo Treppen an beiden Seiten hochgehen, gab es früher eine kleine Probebühne, die man auch als kleine Bühne nutzen konnte. Ganz offen und akustisch nicht vom Foyer getrennt. Man sollte sie nun schließen. Hier würde ich einen riesigen, schwarzen Quader rein setzen. Komplett geometrisch und so hoch und breit wie es nur irgendwie geht, so dass es aussieht, als würden sich die Treppen um diesen Block schmiegen. Drinnen befindet sich ein White Cube, voll ausgestattet wie ein Theater. Ein großer weißer Raum. Er kann für Vorstellungen, Ausstellungen, Zwischenformate usw. genutzt werden. Man kann eine oder mehrere Tribünen einbauen oder er kann ganz offen bespielt werden. Das Publikum ist frei platzierbar – ja nach Wunsch oder Bedarf. Aber auch kleiner Arbeiten sind hier realisierbar. Es ist eine Bühne, wie wir Bühnen aus der freien Szene kennen, zugleich ein Museumsraum (mit Technik) – ein grey space also, ein offener Raum für das Dazwischen. Ein Hybrid der tausend Möglichkeiten.

Auch die große Bühne ist natürlich in jede Richtung bespielbar und die Zuschauer können mit auf die Bühne genommen werden. Hier können aber auch Produktionen in viel größerem Stil für viel mehr Zuschauer erarbeitet werden.

Zusätzlich Bedarf es noch einiger Proberäume, kleinerer Ateliers zum denken und recherchieren die angebaut oder irgendwo in der Stadt gesucht werden müssten.

Sparten werden abgeschafft. Ausgehend vom Menschen und für den Menschen ist hier alles möglich. Es geht ums Choreografieren von Bewegung, Atmosphäre, Licht, Musik, Gesang, Geräusch, Zuschauer, Inhalt, Bild, Ästhetik, Diskussion, Sprache, Material usw. Die Elemente stehen in einem schwebenden Verhältnis und je nach Arbeit übernimmt mal das eine oder das andere die Führung, den Raum, die Narration.

Ob es ein festes Ensemble mit vielen Gästen oder ob jeder „Choreograf“ (gemeint in diesem erweiterten Sinne) seine Tänzer, Performer, Darsteller, Sänger oder was auch immer komplett mitbringt ist fallweise zu prüfen. Ich tendiere zum Ensemble hybrider Darsteller.

Es entstehen Projekte, wie wir sie aus der freien Szene kennen, nur komplett finanziert und für die Künstler antragsfrei. Finanziert wie am Stadttheater. Bühne, Kostüme, Licht usw. kommt aus den Gewerken, kreative Mitarbeite werden mitgebracht, mit nur einer Einschränkung. Die Bühnen sollen auf jeden Fall tourfähig sein, auch deshalb, damit die Logistik der Herstellung, Lagerung, Auf- und Abbau nicht so grundlegend die Abläufe bestimmt, wie dies im Stadttheater noch immer üblich ist.

Es gibt deutlich längere Spiel- bzw. Laufzeiten – eher wie im Stadttheater. Auf keinen Fall wird aber jeden Abend etwas anderes gespielt – die Künstler würden wahnsinnig und das Publikum auch, denn dieses soll ja Gelegenheit bekommen, Arbeiten zu verfolgen. Eine Arbeit sollte wenigsten vier mal gezeigt werden (z. B. Donnerstag bis Sonntag) und dass dann noch einige Male in dieser und eventuell der darauffolgenden Spielzeit.

Längere Laufzeiten und Wiederaufnahmen sind nicht nur für die Zuschauer wichtig. Auch für den Künstler. Erst bei der Premiere, in der Begegnung mit dem Publikum tritt wirklich zu Tage, was die Arbeit ist, was ihre Schwächen und Stärken. Im immer wieder Spielen, immer wieder Sehen und proben der Arbeit wird sie rund, tief, stark und satt. Bei der Premiere steht das Skelett. Nur in der Begegnung mit dem Publikum kommt das Fleisch. In Zeiten des Konsums und des Wegwerfens finde ich es wichtig, hier den Impuls der Entschleunigung und Vertiefung zu setzten.

Ich muss zwangsläufig an Pina denken, wenn ich über ein utopisches Theater in Wuppertal nachdenke. Ihre Meisterwerke wurden nicht einfach aus der Taufe gehoben. Gerade ihrer Arbeit war ständig im Wandel begriffen. Immer wurde noch hier oder dort was verändert – wie wäre ihr das  ohne Wiederaufnahmen gelungen.

Es sollten nicht zu viele Premieren im Jahr entstehen. Auch deshalb, weil die schiere Masse den Tanz entwertet. Niemand kann das noch alles sehen. Auch brauchen wir Zeit auf der Bühne, und Ruhe. Es gäbe ja zwei Bühnen und eine Bar und einen Garten, da ist immer noch genug los. Mut zur Entschleunigung. Mut auch dazu, dass Künstler nicht immer ad hoc funktionieren, sondern sich über Jahre ausprobieren, vielleicht ein Leben lang. Dazu ist es wichtig, auch mal schlechte Arbeiten machen zu dürfen, auf dem Holzweg zu sein, sich zu irren. Auch hier muss ich an Pina denken, und an das Vertrauen, dass ich fordere. Pina bekam damals die Tanzsparte der Wuppertaler Bühnen, ohne viel Erfahrung vorweisen zu können, ohne anfangs erfolgreich zu sein, ohne viel Publikum. Und die paar Zuschauer, die kamen waren entsetzt, aggressiv und sind lautstark verschwunden. Trotzdem durfte sie weitermachen – wurde nicht ausgewechselt. Wir alle wissen, was das bewirkt hat …

Ein größere Anzahl Kuratoren oder Dramaturgen stehen zur Verfügung – als Gesprächspartner, als outside eye, als Ermöglicher, Ich liebe Dramaturgen. Jeder Künstler sollte in jeder Produktion die Möglichkeit haben, mit einem oder mehreren zu arbeiten. Es ist wichtig, Menschen zu verbinden – weltweit – und die Arbeiten zu kommunizieren. Lokal wie international.

Doch anders als viel zu sehr gewohnt, sollten die Entscheidungsträger immer die Künstler sein. Denn es geht um Kunst und um die Bedürfnisse der Kunst. Alle anderen sind da, um die Kunst zu ermöglichen. Um Räume, Inhalte, Kontexte und Verbindungen, Visionen für Formate, Reihen und Themen zu ersinnen. Diese gehen in die Gespräche. Ich stelle mir das so vor, dass es diese Vorschläge gibt und die Künstler, die am Haus arbeiten gefragt werden, wer Interesse hätte, mit zu machen. Wenn es genug gibt, kann es realisiert werden, wenn nicht, vielleicht irgendwann später oder nie. Denn sonst kommen die Künstler wieder in die Tretmühle, Inhalte und Formate zu bearbeiten, die ihnen gar nicht entsprechen.

Es darf also Reihen oder kuratierte Festivals geben, aber niemals zur Monokultur werden.

Wie wird aber entschieden und wer darf was entscheiden. Wer darf mitmachen? Ich finde das immer schwer zu pauschalisieren, denn da gibt es kein perfektes System, weil wir alle Menschen mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten sind: die einen funktionieren besser im Kollektiv, die anderen besser mit klaren Aufgabenfeldern. Nicht jeder mit großen Ideen kann gut führen oder umsetzten. Manche laufen aber zur Höchstform auf, wenn sie genau alles zusammen machen. Manche Menschen funktionieren am besten dialogisch. Dass muss sehr ehrlich und im Prozess entstehen. Es darf nicht um Eitelkeiten gehen.

Die Machtverhältnisse wollen gut verteilt sein, aber nicht so sehr, dass die Stärke der Stimme verloren geht. Das Publikum muss noch wissen, worauf es sich einlässt. Auf ein Schule der Wahrnehmung. Auf Raumgreifendes, Genreüberschreitendes, Visionäres, Prozesshaftes. Denn die Künstler sind greifbar, die Prozesse sind erlebbar. Das Wuppertaler Schauspielhaus wäre ein Künstlertheater, ein Theater der Grausamkeit, ein Theater der Leere, ein Theater der Einlassung.