Preset & Liveness – Ein Labor zwischen analogen und digitalen Räumen

FREIRAUM

Friendly Takeover der Reihe „Critical Distance“ durch Cheers for Fears

22 - 26 mär 2021

Kill your assumptions oder: wie der Raum die Kunst bestimmt

Dokumentation von Laura Biewald (Text) und Robin Junicke (Foto)

TAG 1 – LABORAUFTAKT

Eine vielversprechende Woche beginnt an einem Montagmorgen im Düsseldorfer FREIRAUM, einem Ort, der geschaffen wurde, um Künstler*innen und Akteur*innen aus verschiedensten Bereichen das kollaborative oder individuelle Arbeiten zu ermöglichen, um zu forschen, zu experimentieren oder auch, um einfach nur zu sein. Für die kommende Woche möchte die Initiative Cheers for Fears diesen Ort in Form eines friendly takeover in ein Labor verwandeln, welches die Korrelation zwischen künstlerischen Arbeiten und ihren Orten befragen will und sowohl die Möglichkeiten als auch die Schwierigkeiten interdisziplinärer Kollaborationen im analogen und digitalen Raum erforschen soll.

Dazu wurden Personen unterschiedlicher Disziplinen eingeladen, um gemeinsam unter der Leitung von Sina-Marie Schneller, der Koordinatorin von Cheers for Fears, und der Tänzerin und Choreographin Silvia Ehnis die Experimentierfelder FREIRAUM, öffentlicher (Stadt)Raum und digitaler Raum auf die Fragestellung hin zu untersuchen, welche Kollaborationen zwischen diesen Orten möglich sind, welche Rolle Liveness dabei spielt und wie ein möglicher Transfer von Arbeitsweisen zwischen diesen Räumen geleistet werden kann.

Das Labor ist Teil der Reihe „Critical Distance“, die vom FREIRAUM während des ersten Lockdowns initiiert wurde, um sich angesichts der Pandemie mit Aspekten wie Fürsorge und Weitergabe zu beschäftigen. Solche Fragen, wie auch die nach Digitalität, Öffentlichkeit, Teilhabe und neuen Formen der Zusammenarbeit in Kunst und Kultur stehen jedoch nicht erst seit der Pandemie im Raum, verlangen aber nun mehr denn je Antworten: Was kann eine Bühne sein, was brauchen die Akteur*innen, um sich neue Bühnenräume zu erschließen, welche Potenziale birgt hier der digitale Raum und wie kann ein Transfer der künstlerischen Arbeit von einem in den anderen Raum aussehen?

Um die unterschiedlichen Perspektiven, die bei einer möglichen Beantwortung dieser Fragen unbedingt berücksichtigt werden müssen, zu Wort kommen zu lassen, wird an jedem Morgen der Laborwoche eine eingeladene Person aus einem je verschiedenen Kontext einen Impulsvortrag halten, aus dem heraus sich eine Diskussion ergeben soll, deren Inhalte und Denkanstöße wiederum in die anschließenden Experimentierphasen mitgenommen werden können. Die Experimente erfolgen in zwei Gruppen, auf die die Teilnehmer*innen aufgeteilt werden. Damit sich bei der räumlichen Trennung der drei Erprobungsfelder nicht der kollaborative Gedanke im Dazwischen verliert, sieht es der Plan vor, dass jede Gruppe nach Abschluss des Tages eine Spur für die jeweils andere Gruppe legt, die diesen Raum – vor Ort, öffentlich oder digital – am nächsten Vormittag betritt. Eine translokale Schnitzeljagd sozusagen, raumübergreifendes Geocaching. Mit den entdeckten Spuren soll dann in den Versuchen weitergearbeitet werden.

Soweit also die Rahmung für dieses Labor, dessen Frage vor allem sein wird, wie sich eine Vernetzung der drei Räume, im Sinne einer Gleichzeitigkeit, also einer Liveness, gestaltet und wie sich, hinsichtlich eines künstlerischen Ergebnisses, ein interdisziplinärer Prozess und ein Austausch von Wissen und Material ermöglichen lässt.

Um die momentan alles beherrschende physische Distanz zu verringern und einander kennenzulernen, trifft sich ein Großteil der Teilnehmenden zunächst analog und live im FREIRAUM (auf Abstand und unter Berücksichtigung höchster Hygienemaßnahmen, versteht sich), ein paar weitere sind per Video zugeschaltet. Nach einem ersten Ankommen und dem gegenseitigen Austausch der eigenen Positionen wird bereits deutlich, wie sehr es alle genießen, mit unterschiedlichen Perspektiven in Kontakt zu treten und es lässt sich erahnen, wie dieses Labor den Hunger nach Dialog und Ko-Präsenz etwas stillen könnte.

Mit dieser Hoffnung geht allerdings auch eine gewisse Skepsis gegenüber der Digitalität einher, in einer Zeit, in der die Sehnsucht nach physischer Ko-Präsenz und analogem Zusammensein und -arbeiten immer stärker wird. Dennoch soll dieses Labor Anlass dazu geben, Digitalität neu zu denken – nicht im unvereinbaren Gegensatz zur Analogität, sondern als deren Erweiterung und Bereicherung. Dabei gilt es vor allem, bestehende Annahmen über die jeweiligen Räume zu hinterfragen und sich mit den vorherrschenden Arbeitsbedingungen kritisch auseinanderzusetzen, um einen demokratischen Zugang zu  diesen Räumen zu ermöglichen.

Der Raum als Pre-Set

Der erste Labortag steht im Zeichen grundsätzlicher Befragungen zum Raum und dessen Konditionen: Was kann ein Raum sein? Wem gehört dieser Raum? Welche Regeln gelten dort? Wer hat Zugang und an welche Bedingungen ist dieser geknüpft? Wer legt all die Regeln fest und wer übernimmt die Verantwortung?

Um sich einer möglichen Beantwortung dieser Fragen anzunähern, wird zunächst einmal der FREIRAUM als Basis, von der aus die anderen Orte – Stadtraum und digitaler Raum – erschlossen werden, erkundet. Mithilfe der fiktiven Einrichtung eines Arbeitsplatzes in einem Teil des Raumes und dessen Präsentation im Eins-zu-eins-Gespräch mit den anderen Teilnehmenden, kann jede*r reflektieren, welche Bedingungen es für die Organisation der Arbeitsprozesse braucht und wie sich (Arbeits-)Räume konzipieren.

Bei der Auswertung dieses ersten Experiments im Raum fällt auf, welch zentrale Rolle die Kommunikation und der Körper bei der Konzeption von Räumen spielen. Doch bedeutet dies zwangsläufig, dass es die physische Anwesenheit menschlicher Körper in ein und demselben Raum braucht, um von Ko-Präsenz zu sprechen? Wo liegen die Grenzen des Körpers – dort, wo die Haut den Körper umschließt oder dort, wo das Gehör keine Schallwellen mehr vernimmt? Ist das Sehen ein Indikator dafür, wie ich den Raum definiere? Und was bedeuten diese Grenzen für den digitalen Raum? Welche Grenzen hat er und welche Rahmung braucht er, um (künstlerische) Arbeitsprozesse effektiv entstehen zu lassen? Was bedeutet es für die räumliche Verbindung, wenn sich die menschliche Wahrnehmung auf zwei Räume erstreckt, etwa bei den mittlerweile allseits bekannten und viel praktizierten Zoom-Meetings? Der Körper befindet sich dabei in einem anderen Raum als der Ort des Meetings selbst, die Sprache fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen beiden. Es erscheint paradox, dass die räumliche Trennung von Körper und Denkapparat zu einer Verbindung der analogen und digitalen Welt führen kann, doch dass hierin auch ein überaus großes Potenzial zur interdisziplinären Kollaboration liegt und wie dieses Potenzial ausgeschöpft werden kann, darum soll es in den kommenden Tagen gehen.

TAG 2 – DIFFICULT DEGREES OF LIVENESS

Der zweite Tag beginnt mit einem Impulsvortrag von Ben J. Riepe, dem Gründer des FREIRAUMS als Konzeptionsort für die Freie Szene, an dem Künstler*innen und Wissenschaftler*innen aller Sparten in einen Austausch auf Augenhöhe kommen können und der zu möglichen interdisziplinären Kollaboration anregen soll.

Der Vortrag findet sowohl vor Ort, im FREIRAUM selbst, als auch im digitalen Raum in Form einer Zuschaltung der abwesenden Personen in einem Zoom-Meeting statt. Bereits erste technische Schwierigkeiten bei der Übertragung von Bild und Ton deuten darauf hin, wie schwierig sich der Live-Charakter eines Ereignisses gestaltet, wenn dieses in zwei Räumen zur gleichen Zeit stattfindet. Was bedeutet dies für künstlerische Arbeitsprozesse und worum geht es überhaupt bei der sogenannten ‘Liveness’?

Es geht dabei um eine Begegnung und die Frage nach dem Wie dieser Begegnung. In der  Liveness bildet sich eine temporäre Gemeinschaft, deren Teilnehmer*innen etwas gemeinsam er-leben. Wo dieses Erleben stattfindet, ist insofern von Relevanz, als dass der Ort und das Erlebnis in Wechselwirkung zueinander stehen. Der Raum ist einerseits maßgeblich verantwortlich für die Qualität und Beschaffenheit des Erlebens und andererseits bestimmt die Sinneswahrnehmung die Größe des (wahrgenommenen) Raums: Das Sehvermögen als weitestes Sinnesorgan schafft Distanz zum Angesehenen wobei das haptische Erleben über die Haut eine direkte Nähe zum (Kunst-)Objekt schafft.

Angesichts dieses Sachverhalts ist es fraglich, wie sich der immer noch hohe Stellenwert der etablierten Guckkastenbühnen an Stadt- und Staatstheatern rechtfertigen lässt. Doch wie kann, in pandemischen Zeiten wie diesen, in denen bestimmte Formen der Liveness, insbesondere der physische Kontakt untereinander, unmöglich, ja sogar verboten sind, ein Raum gedacht werden, der eine andere Art von Live-Sein ermöglicht? Kann der digitale Raum etwa eine Antwort auf diese Frage liefern?

Räumliches Denkvermögen

Nach einem Jahr voller Zoom-Meetings, (die nach vierzig Minuten abbrechen, weil kaum eine*r der Meeting Hosts über einen Premium Account verfügt) und so manchem Samstagabend vor dem heimischen Laptop, (vor dem mit knirschenden Zähnen das ein oder andere Glas Rotwein getrunken wird, nur, um beim Streamen der vor leeren Rängen gespielten Premiere an einem der bundesweiten Theaterhäuser ein bisschen Kulturerlebnis-Feeling aufkommen zu lassen), dürfte klar geworden sein, dass der digitale Raum den analogen keineswegs zu ersetzen vermag und längst nicht jede*r gleichermaßen Zugang dazu hat. Allerdings, und dies gilt es zu erforschen, kann er als Erweiterung sowohl des analogen Raums als auch des Bewusstseins der Künstler*innen dienen. Womöglich bedarf es dazu des Verlassens der Komfortzone und des Einlassens auf das Potenzial von Virtualität.

Doch bereits bei der Aufteilung der sechs Laborteilnehmer*innen in zwei Gruppen zeichnet sich eine gewisse Tendenz dahingehend ab, zunächst den Ort zu wählen, der am bekanntesten und sichersten erscheint. Selbst die Einteilung und Organisation der Gruppen und Räume erfolgt analog – mithilfe von kleinen Figuren, die auf einem Holzbrett arrangiert werden, um das Konzept für die kommende Woche zu visualisieren.

Während also zunächst die eine Gruppe das große Atelier des FREIRAUMS und dessen Beschaffenheit haptisch und analog erforscht, beschäftigt sich die andere Gruppe mit dem Ausfindigmachen von Werkzeugen für die Erzeugung virtueller Ereignisse und stellt sich methodische Fragen des Transfers künstlerischer Arbeitsweisen zwischen analogen und digitalen Räumen: Wie lässt sich gleichzeitig in den unterschiedlichen Räumen arbeiten und das Material teilen? Welches Potenzial hat es, die eigenen Fähigkeiten in einen anderen Ort zu übertragen und welche Werkzeuge braucht es dazu?

Bei den Experimenten und Erprobungen wird deutlich, dass es neben der nötigen Hardware spezielles Wissen braucht, um die digitalen Räume so zu nutzen, dass in ihnen ein Ereignis stattfinden kann, in welchem sich im besten Falle zuvor eine Kontamination von analogem und digitalem Ort vollzogen hat. Diese Kontamination erfordert das unbedingte Teilen von Wissen in einer demokratischen und interdisziplinären Kollaboration, für welche der FREIRAUM als Ort dieses Labors sicher Pate steht.

Spuren legen, Spuren lesen

Zur gemeinsamen Kommunikation im digitalen Raum und als erster Versuch, diesen mit dem analogen Raum zu verknüpfen, wird das Portal ‘Discord‘ ausgewählt – ein ursprünglich für die Gaming-Szene entwickelter Onlinedienst – auf dem die Teilnehmenden Inhalte teilen, Gruppen bilden und Unterhaltungen führen können. Auch die Spuren können hier für die jeweils andere Gruppe gelegt werden. So findet sich nach dem zweiten Labortag ein Bild eines Tesla-Anzugs, durch dessen Tragen physische Empfindungen wie Temperatur, Gewicht oder Berührung im digitalen Raum nachempfunden werden können.

Die Spur, welche diejenige Gruppe, die zunächst analog gearbeitet hat, hinterlässt, eröffnet ein elementares Untersuchungsfeld dieses Labors, nämlich die Frage danach, welche Regeln in einem bestimmten Raum gelten. Meist besteht im privaten und öffentlichen Raum seitens der Nutzer*innen ein Wissen oder mindestens eine Annahme darüber, welche Regeln dort gelten. Es sind Verhaltensregeln für ein friedliches Miteinander, aber auch Bestimmungen und Beschränkungen, die eine vorherrschende Hierarchie immer wieder aufs Neue und oft unhinterfragt reproduzieren. Es stellt sich also die Frage, wie sich diese Regeln neu definieren lassen. Zudem steht die Bevölkerung angesichts der Pandemie und der damit einhergehenden plötzlichen Änderung oder gar Aufhebung der bekannten Regeln an teilweise unbenutzbar gewordenen Orten vor einer großen Herausforderung. Um sie zu meistern, müssen Antworten auf die von der Gruppe gestellten Fragen gefunden werden: Wie finden wir Halt im Raum? Ist in diesem Raum Platz für persönliches Empfinden und wird dafür ein Rahmen geschaffen? Welche Art von Kommunikation etablieren wir? Wie kann diese gewaltfrei und nicht-diskriminierend realisiert werden? Wie schaffen wir individuelle Schutzräume?

Es sind ebendiese Fragen, die sich auf die Nutzung des digitalen Raums übertragen lassen und deren Beantwortung von mindestens genauso hoher Relevanz sein muss wie der Erwerb von Fähigkeiten, diesen Raum zu nutzen.

TAG 3 – DIE EXPANSION DER KUNST IN DIGITALE RÄUME

So steht dann auch der dritte Labortag im Zeichen des künstlerischen Potenzials der Digitalität. Den Input-Vortrag hält an diesem Morgen – per Zoom zugeschaltet – Viviane Lennert, Mitarbeitern an der Akademie für Theater und Digitalität. Unter der Leitfrage, wie sich die Produktionen ändern, wenn sich die räumlichen/medialen/technischen Bedingungen ändern, berichtet die Absolventin des Masterstudiengangs Szenische Forschung an der Ruhr-Universität Bochum von Möglichkeiten und Schwierigkeiten digitaler Ko-Produktionen.

Die Probleme sieht sie darin, dass die Nachfrage nach digitalen Formaten plötzlich steige, die Angebote allerdings fehlten. Dies wiederum liege, so Lennert, an der Hemmnis vieler Künstler*innen, die aufgrund der fehlenden Ausbildung im digitalen Bereich und somit fehlender oder unzureichender technischer Kompetenzen eine gewisse Skepsis gegenüber der Vorstellung hegten, ihre Kunst in den digitalen Raum zu übertragen.

Die Sache mit dem Körper

Auch unter den Teilnehmer*innen des Labors lässt sich diese Skepsis ausmachen. Es scheint hier um einen Grundsatzkampf zu gehen: Distanz vs. Ko-Präsenz. Körper konzipieren Räume, Digitalität schafft Distanz. Theater, als eine Kunstform, die ursprünglich für die physische Ko-Präsenz menschlicher Körper geschaffen wurde, für eine Liveness des Ereignisses in räumlicher Gleichzeitigkeit mit dem Publikum, will so gar nicht zu dem Verlust des Körpergefühls im digitalen Raum und der damit einhergehenden Distanz zum Ereignis passen. Was ist also zu tun?

Womöglich liegt ein Lösungsansatz in der bereits formulierten Erkenntnis, den digitalen Space nicht der analogen Welt entgegenzusetzen, sondern ihn als deren Erweiterung zu denken, parallel zum realen Space existierend. Darüber hinaus liege, Lennert zufolge, in der Distanz der Künstler*innen zu ihrem Körper beim Eintritt in den digitalen Raum ein größtmögliches performatives Potenzial. Mögliche gesellschaftliche Konnotationen und Lesbarkeiten von Körpern könnten hier wegfallen und Identitäten dadurch ganz anders (miteinander) agieren und kommunizieren. Allerdings birgt diese Freiheit in der digitalen Welt auch enorme Gefahren, denn es existieren allerlei Möglichkeiten, jedoch kein etablierter Moralkodex, welcher als Kontrollinstanz eine Rahmung geben könnte. Stichwort: Safe Space. Welche Regeln gelten für den digitalen Raum?

Wenn es also darum geht, Formate zu (er)finden, die keine Ko-Präsenz benötigen, meint Viviane Lennert, seien aber nicht nur die Künstler*innen selbst gefragt, sondern auch die Produktionshäuser und Theaterinstitutionen, die Angebote schaffen und eine Infrastruktur etablieren müssten, welche die Kunstschaffenden in der Ausbildung digitalen Know-Hows unterstützt und so Zugänge und Sichtbarkeiten ermöglicht.

Anschließend an diesen Input findet am Nachmittag ein weiteres Erproben verschiedener Tools, Skills und Spaces statt, indem die digitale Gruppe in den öffentlichen Raum wechselt und die analoge in den digitalen. Die Arbeit in der eigenen Gruppe wird immer intensiver, das Eintauchen in das Experimentieren mit Aussicht auf ein eventuelles Endergebnis immer tiefer und der Gedanke an die anderen Teilnehmer*innen in Form des Spurenlegens sowie der Austausch auf Discord nehmen indes ab. Es stellt sich die Frage, wie viele Räume sich eigentlich simultan denken lassen?

Inzwischen haben sich diejenigen Teilnehmer*innen, die von vornherein nur aus dem digitalen „Off“ zugeschaltet waren, aus verschiedenen Gründen vom Labor abgemeldet.

TAG 4 – VOM SEHEN UND UNSICHTBAR WERDEN

Den letzten Impuls am Morgen gibt Prof. Dr. Ulrike Haß, emeritierte Professorin des Instituts für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ihr Vortrag (wieder über Zoom) und das anschließende Gespräch haben vor allem die Themenfelder Blick, Auge und Bühnenform zum Gegenstand. Bei ihren Ausführungen wird deutlich, wie eng das Theater mit dem öffentlichen Raum, insbesondere der Straße, verknüpft ist. Lange hat das Theater vom Transport der Inhalte der Straße gelebt, doch nun verändert sich die Funktion der Straße in den Städten, die immer smarter werden.

Muss das Theater wieder auf die Straße, um sichtbar zu werden? Oder muss sich die Straße in den digitalen Raum verlagern, damit das Theater sichtbar wird?

Bei den Überlegungen zu der unterschiedlichen Beschaffenheit der Räume – sei es ein Theaterhaus (als Ort, der schon von vornherein als Kunstort deklariert ist), sei es der öffentliche Raum oder aber der digitale – lässt sich festhalten, dass es immer irgendeine Form von Bühne braucht, um irgendeine Form von Theater zu zeigen. Die Kunstform verlangt also, dass die Performer*innen gesehen werden. Nun ist dieser einseitige Blick der Zuschauenden auf die Performer*innen und damit das dem Theater inhärente dominante Prinzip des Sehens durchaus problematisch zu bewerten; weshalb sich das für diesen einseitigen Blick am besten geeignete Modell des Guckkastens auch immer mehr verändert. Die Frage, die sich aus dieser Problematik ergibt, lautet, wie eine Bühne abseits des etablierten Modells aussehen kann. Was bedeutetet dies im Hinblick auf Ko-Präsenz? Besonders für das politische Moment, führt Ulrike Haß weiter aus, sei die physische Ko-Präsenz, ja sogar die Versammlung vieler Körper, unabdingbar. Doch die Orte, an denen sich die Menschen innerhalb der Stadt aufhalten könnten, seien zum größten Teil nicht mehr in der öffentlichen Hand. Die Stadt werde mehr und mehr vermarktet und im Sinne des Kapitalinteresses der Investor*innen vereinnahmt. Plätze, an denen die Menschen politisch miteinander agieren, diskutieren, oder einfach sein können, ohne etwas konsumieren zu müssen, werden auch von den Teilnehmer*innen dieses Labors vermisst. Politische Diskussionen und Meinungsaustausch haben sich längst in den digitalen Raum verlagert, allerdings ohne die mit einer physischen Ko-Präsenz einhergehenden Hemmschwellen und ohne klare Regeln für eine respektvolle Kommunikation.

Ulrike Haß plädiert deshalb dafür, dass die Stadt lebbar bleiben muss und sie bleibe lebbar, wo sie noch nicht vermarktet ist. Diese Areale seien Orte, mit denen sich das Theater verbünden könne, in gewisser Weise „von unten“, wo die Stadt politisch und ökonomisch noch nicht belagert sei.

Unwahrnehmbar werden

Es geht also darum, auf irgendeine Weise gegenwärtig zu werden. Aber lässt sich diese Gegenwärtigkeit auch im digitalen Raum ermöglichen, wenn dort die körperliche Wahrnehmung abseits des Sehens kaum gegeben ist und physische Empfindungen wie etwa die Temperatur des Raumes und der anderen Körper entfallen?

Viviane Lennert hatte in ihrem Beitrag einen Tag zuvor noch vom ultimativen  performativen Potenzial gesprochen, das zutage tritt, wenn die Künstler*innen im digitalen Raum von ihrer körperlichen Situiertheit getrennt sind und dadurch ein Stückweit unsichtbar werden. Die Notwendigkeit einer Bühne im Zusammenhang mit Performativität setzt nun ja aber eigentlich eine Sichtbarkeit voraus. Wie kann der Künstler/die Künstlerin nun also gegenwärtig und gleichzeitig unsichtbar werden? Wie löst sich die Organisation des Körpers, die sich vor allem durch das Gesicht konstituiert, auf? Durch Masken etwa oder Avatare? Hinter ihnen stecken ja doch wieder reale Körper, ohne die sich kein Raum  – vor allem kein digitaler – realisieren lässt, da ein (Theater-)Geschehen, so Haß, immer vorbereitet werden müsse.

Die Herausforderung und auch Aufgabe besteht nun also darin, den physischen Körper mit dem digitalen Raum zu verquicken. Die sogenannte Mixed Reality könnte hier Abhilfe schaffen, in welcher beispielsweise durch das Tragen einer VR-Brille bestimmte physische Sinne unterstützt werden und sich so eine Gegenwärtigkeit verstärkt.

Mit der gesichtlichen Organisation des Körpers lösen sich im digitalen Raum auch Hierarchien auf, die sonst so eng mit dem Dispositiv der Bühne und dem damit einhergehenden Blickregime verknüpft sind. Um diese Hierarchien auch im analogen (Theater-)Raum aufzulösen, sei laut Haß ein kollektives Arbeiten aus dem Ensemble heraus vonnöten, wie es bereits in vielen Performancekollektiven der Freien Szene, wie She She Pop oder Gob Quad, praktiziert werde.

Da also eine Liveness immer mit einer Form der Gegenwärtigkeit und damit einem bestimmten Blick einhergeht, muss, welcher Raum auch genutzt wird, eine Demokratisierung des Blicks erfolgen. Allerdings, meint Ulrike Haß, müsse dafür ein Theater geschaffen werden, welches sich nicht durch die Notsituation einer Pandemie mal eben schnell herstellen lasse.

TAG 5 – ABSCHLUSS UND AUSBLICK

Die Straße als öffentlicher Raum und als Ort des Theaters wird am letzten Tag noch einmal von einem Teil der Laborteilnehmer*innen erforscht. Die sich daraus ergebenen offenen Fragen lassen sich, zusammenfassend, auch auf die anderen Räume übertragen: Welche Regeln gelten an welchem Ort und wie verhalten wir uns, wenn wir dessen Regeln und Bedingungen nicht kennen? Wann ist eine Bühne eine Bühne? Und: Ist Kunst erst dann Kunst, wenn ich sage, dass es Kunst ist?

Im gegenseitigen Showing der Forschungsergebnisse dieser Laborwoche wird noch einmal deutlich, dass der jeweilige Raum immer die Bedingungen für die dortige Arbeit und die Kunst schafft. Wie wir an die Räume herantreten, hängt zum Großteil von verschiedenen Annahmen ab, die sich als wahr oder falsch erweisen können, die es aber zu hinterfragen gilt. Im Ausprobieren entstehen dann Begegnungen, die wiederum einen Wissensaustausch ermöglichen, um analoge und digitale Räume mehr und mehr vernetzen zu können.

In Zeiten von erzwungenem Physical Distancing und Schutzmaßnahmen wie der Maskenpflicht im öffentlichen Raum sind Aspekte wie Unsichtbarkeit und Unwahrnehmbarkeit auf der Ebene des digitalen Kontakts vermutlich das Letzte, das sich die Menschen wünschen. Dennoch muss angesichts der immer näher rückenden von der Natur ausgehenden Gefahr für den Menschen und vice versa ein sicherer Ort für Kunst geschaffen werden, der andere Räume mitdenkt und ein Verständnis für deren Potenziale etabliert. Vor allem müssen hier die technischen Fähigkeiten der Künstler*innen erweitert und eine passende Infrastruktur für diesen Wissenserwerb etabliert werden, um die Hemmungen abzubauen, die aufgrund der digitalen Übersättigung und der vielen Vergleichsmöglichkeiten bestehen. Interdisziplinäre Kollaborationen sind dabei eine Grundvoraussetzung für das Weiterdenken und Kombinieren von Räumen.

Insofern hat die Laborwoche im FREIRAUM eine Möglichkeit zur Erprobung solcher Kollaborationen geboten, inklusive der Entdeckung so manch blinder Flecke und einem sehr bereichernden Austausch für die Teilnehmer*innen.

Man sieht sich auf der Straße. Oder im digitalen Raum. Oder im Theater. Vielleicht sogar überall zur gleichen Zeit…